Autoren: Peter Jeker, Carmen Pescatore

Die Auswirkungen nicht integrierter frühkindlicher Reflexe und deren Behandlung mit der Akupunktur Massage nach Radloff

Lernschwierigkeiten oder koordinative Störungen muss das sein?

Wie oft beobachten wir bei Klein- oder Schulkindern motorische Defizite oder zu einem späteren Zeitpunkt Lerndefizite. Diese Defizite sind sehr oft auf nicht gehemmte und dadurch nicht integrierte frühkindliche Reflexe zurückzuführen. Doch wie funktioniert das? Gibt es präventive Behandlungsmöglichkeiten?  Gibt es Behandlungsmöglichkeiten bei schon bestehenden Lernschwierigkeiten oder motorischen Auffälligkeiten?

Gern möchten wir Eltern und Betreuungspersonen aber auch Fachpersonal darauf sensibilisieren motorische Auffälligkeiten unbedingt schon beim Säugling sehr ernst zu nehmen. Meist sind diese beobachtbar durch einseitige Bewegung der Extremitäten, einseitiges Kopfdrehen, «Nussgipfelform» in der Rückenlage (man richtet den Säugling auf dem Wickeltisch immer wieder gerade), einseitig fest geschlossen Hand, einseitige Beugung der Hüfte usw.

Grundlagen

Die frühkindlichen Reflexe spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Nervensystems und der motorischen Fähigkeiten von Säuglingen. Jeder einzelne dieser Reflexe (ein Reflex geschieht unbewusst) hat eine bestimmte Aufgabe, ist in der Entwicklung des Menschen vorgesehen und bildet die Grundlage für spätere bewusst gesteuerte Fertigkeiten. Wenn die Reflexe ihre Aufgabe erfüllt haben, werden sie durch höhere Zentren im Gehirn gehemmt und kontrolliert. Ist dies nicht der Fall wird eine optimale Entwicklung der Grob- und Feinmotorik gehemmt. (Beigel, 2003)

Allgemeiner Überblick über die aufbauende Entwicklung einiger frühkindlicher Reflexe

1. Greifreflex: Dieser Reflex tritt normalerweise in den ersten Lebenswochen auf. Wenn etwas die Handfläche eines Babys berührt, greift es automatisch danach. Dieser Reflex hilft beim Festhalten und beim Entwickeln von Hand-Augen-Koordination.

2. Moro-Reflex: Dieser Reflex tritt in den ersten Lebensmonaten auf und ist eine Reaktion auf plötzliche laute Geräusche oder ein Gefühl des Fallens. Das Baby breitet die Arme weit aus und zieht sie dann schnell wieder an den Körper. Der Moro-Reflex hilft dem Kind, sich auf seine Umgebung aufmerksam zu machen.

3. Suchreflex: Wenn das Gesicht eines Babys berührt wird, dreht es automatisch den Kopf in Richtung der Berührung, in der Hoffnung, Nahrung zu finden. Dieser Reflex hilft dem Säugling beim Stillen und später beim Flaschenfüttern.

4. Babinski-Reflex: Wenn die Sohle eines Babys gestreichelt wird, spreizt es normalerweise die Zehen und beugt den großen Zeh zurück. Dieser Reflex verschwindet normalerweise im ersten Lebensjahr, wenn sich die Kontrolle über die Zehen entwickelt.

5. Asymmetrischer Nackenreflex: Wenn der Kopf des Babys zur Seite gedreht wird, streckt es automatisch den Arm und das Bein auf dieser Seite und beugt den Arm und das Bein auf der anderen Seite. Dieser Reflex fördert die Entwicklung von Kopfkontrolle und später von Kriechen und Krabbeln.

Am Beispiel des asymmetrischen tonischen Nackenreflexes, nachfolgend ATNR genannt möchten wir, vereinfacht, aufzeigen, wie sich eine Störung in der motorischen aber auch kognitiven Entwicklung eines Menschen auswirken kann.

Asymmetrisch tonischer Nackenreflex (ATNR)

(Chucholowski, 1997)

Der ATNR entsteht in der 18. SW. Er soll bei der Geburt vollständig präsent und um den 6. Lebensmonat herum gehemmt und dann integriert sein.

Wenn der Kopf zur Seite nach rechts gedreht wird, strecken sich die rechten Gliedmassen auf der linken Seite dagegen werden sie gebeugt.

Funktion des asymmetrisch tonischen Nackenreflexes

Im Uterus nimmt der ATNR Einfluss schon Einfluss auf bestimmte körperliche Funktionen.

Während der Geburt ermöglicht der ATNR dem Kind die aktive Teilnahme am Geburtsprozess.

In den ersten Lebensmonaten besteht die Aufgabe des ATNR darin, dem auf dem Bauch liegenden Kind die freie Luftzufuhr zu ermöglichen. Ebenso wird die Muskelstreckung verstärkt. Mit Hilfe des ATNR wird die erste Auge-/Hand­ Koordination trainiert. Mit der visuellen Fixierung auf einen Gegenstand wird sichergestellt, dass sich der richtige Arm dem Gegenstand entgegenstreckt. Wenn die Hand nun den Gegenstand berührt, kann sich die Entfernungswahrnehmung herausbilden - von 30 cm bis Armeslange.

Da der ATNR jeweils eine Körperseite trainiert, sollte Einseitigkeit vermieden werden, ansonsten könnte es sich nachteilig auf das Kriechmuster auswirken

Weshalb werden Reflexe nicht gehemmt?

Alle frühkindlichen Reflexe sind wichtig für die frühe motorische Entwicklung und bilden die Grundlage für die bewusste Kontrolle über Bewegungen, die sich im Laufe der Zeit entwickelt. Während sich das Kind entwickelt, sollten diese frühkindlichen Reflexe allmählich nachlassen, während bewusst gesteuerte Bewegungen an Bedeutung gewinnen.

Am Beispiel des ATNR würde das heissen:

Damit der Säugling allmählich in die Lage versetzt wird, seine Finger zu bewegen, um einen Gegenstand ergreifen zu können und seine Arme zu beugen, um das Ergriffene zum Mund zu führen bzw. über die Mittellinie in die andere Hand hinüberzureichen, wird die Unterdrückung des ATNR mit dem 6. Lebensmonat notwendig. Dies geschieht aber erst, wenn der Reflex genügend oft ausgelöst wurde, um durch «Training» in die bewusste motorische Steuerung aufgenommen zu werden. Der Reflex wird somit fliessend unterdrückt und in das bewusste Handeln integriert.

Dieser «Mechanismus» geschieht bei allen Reflexen. Erst durch ständiges Wiederholen der durch den jeweiligen Reflex ausgelösten Bewegungsabläufe werden diese in das höhere Bewusstsein integriert. Das meint, dass die Bewegung bewusst und gezielt ausgeführt werden kann. Wenn jedoch bestimmte Reflexe nicht auftreten oder durch fehlende Stimulation nicht trainiert werden, können sie auch nicht in die bewusst gesteuerte Bewegung integriert werden.

Weshalb treten Reflexe nicht auf? Weshalb können diese nicht stimuliert, bzw. trainiert werden?

Dorothea Beigel nennt in ihrem Buch «Flügel und Wurzeln» folgende Gründe für das Verbleiben von ungenügend integrierten Reflexen:

  1. Ereignisse während der Schwangerschaft (Erkrankungen, emotionale Ereignisse, Drogen, Medikamente u.a.)
  2. Als Folge eines Geburtstraumas (Sauerstoffmangels, Geburtstrauma u.a.)

Aus Sicht der Akupunktur Massage nach Radloff gibt es die folgenden weiteren Gründe;

  1. Ein aufgrund des Geburtsvorganges blockiertes Beckengelenk oder Wirbelgelenk welche Auswirkungen auf die gesamte Motorik haben können.
  2. Organische Störungen können muskuläre Fehlspannungen hervorrufen. Dies kann sich in Form von z.B. einseitigem Schulterhochstand, Faustbildung, Hüftbeugung sowie einseitiger Kopfrotation oder Rumpfneigung u.a. äussern.

Auswirkungen eines nicht integrierten Reflexes

Wie oben schon erwähnt werden die Reflexe, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben, durch höhere Zentren im Gehirn gehemmt und kontrolliert. Ist dies nicht der Fall verhindert es die optimale Entwicklung die Lebenslang fortdauern (Beigel, 2003)

Einige konkreten Auswirkungen könnten sein;

(Chucholowski, 1997)

  • Unbeholfenheit in allen Bewegungen von Beginn an
  • kann nicht in fliessendem Kreuzmuster auf dem Bauch kriechen oder krabbeln
  • Gleichgewichtsprobleme, die das Laufen lernen behindern können
  • homolaterales Bewegungsmuster, roboterhafter Gang
  • Unbeholfenheit im Werfen und im Kicken eines Balles
  • Mitbewegung des Kopfes, um in eine bestimmte Richtung zu schauen, Beobachtungen beim Lesen: Bewegt das Kind den Kopf?
  • Lässt es Buchstaben, kleine Wörter etc. aus? Werden Wörter falsch aneinandergereiht?
  • Liest das Kind beim lauten Lesen abgehackt und /oder monoton?
  • Muss das Kind einen Text öfter lesen, bis es in der Lage ist, diesen zu verstehen? Zeigen die Kinder in der Augenbewegung Hupfer in der Mittellinie?
  • Probleme in der Heft Führung
  • Kind kann nicht in der Zeile schreiben, Geschriebenes wandert nach unten oder oben
  • Stil, Raumaufteilung und Ausrichtung der Schrift können an der Mittellinie deutlich schlechter sein der linke Zeilenrand wandert immer mehr nach rechts
  • ungewöhnliche und/oder verkrampfte Stifthaltung
  • Schmerzen im Handgelenk bzw. Arm beim Schreiben
  • schlechte Handschrift
  • Schreiben lieber in Druckschrift, da eine flüssige Schreibschrift mehr muskulöse Kontrolle verlangt
  • Regelmässiges Absetzen des Stiftes statt eines durchgängigen Striches
  • Diese Kinder können ihr Wissen nicht zu Papier bringen, denn gegen den ATNR anzukämpfen beeinträchtigt die geistigen Prozesse, d.h. mündliche Leistungen sind meist wesentlich besser.
  • Fehler beim Abschreiben von der Tafel, d.h. Quantität und Qualität des Geschriebenen leiden
  • Entscheidung zwischen Genauigkeit oder Schnelligkeit
  • unentschiedene Seitigkeit, d.h. Probleme im Entscheiden der Augen-, Ohr-, Hand-, Fusspräferenz
  • Zuhörprobleme: Durcheinanderbringen der Reihenfolge, Verwechseln oder Vergessen von Buchstaben, Wörtern, Sätzen
  • Schwierigkeiten beim Darstellen symmetrischer Figuren

Vorgehen bei der Behandlung mit der Akupunktur Massage nach Radloff

Ziel der Behandlung muss sein, dem Säugling die körperliche Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, um vorhandene Reflexe trainieren zu können. (siehe dazu Bild «nach Behandlungen

Kann ein Säugling z.B. aufgrund einer blockierten Halswirbelsäule den Kopf nur zu einer Seite bewegen, ist es ihm nicht möglich die blockierte Seite zu trainieren, somit wird auf dieser Seite der Reflex nicht integriert werden.

Das Konzept Radloff verbindet das Wissen und Techniken aus der energetischen chinesischen Medizin (es werden keine Nadeln genutzt) mit praktischen Griffen aus der Physiotherapie.

Ziel ist der Ausgleich von Dysbalancen auf struktureller, energetischer oder emotionaler Ebene. Dies geschieht über die Behandlung der Meridiane, der Becken-, Wirbel- und Extremitätengelenke und der Organe. Faszien und Muskulatur sind selbstverständlich integriert. Unserer Ansicht nach würde es Sinn machen jeden Säugling mit der Methode Radloff zu überprüfen und 2-3 mal zu behandeln. Diese Anzahl Behandlungen sind in der Regel absolut ausreichend um Störungen welche die motorische Entwicklung der Säuglinges bzw. Kleinkindes behindern könnten erfolgreich zu behandeln.

Die für jeden Säugling individuell erkannten Dysbalancen können durch gezielte Hilfestellungen und Maßnahmen vonseiten der Eltern im Alltag unterstützt werden. Es ginge in diesem Artikel aber zu weit, diese hier aufzulisten. Zumal jede schematische Behandlung wie auch Beratung sich kontraproduktiv für das Wohlbefinden des Säuglings und damit der gesamten Familie auswirken kann.

 

Wir wünschen uns, im Wohle aller Kinder, dass mehr Eltern und Therapeuten diese motorischen Auffälligkeiten erkennen und nachhaltig behandeln lassen.

 

Literatur

Beigel, D. (2003). Flügel und Wurzeln. Dortmund: Verlag modernes Lernen Borgmann GmbH.

Chucholowski, A. (1997). Die motorische Entwicklung des Kindes von der Konzeption bis zum 8. Lebensjahr. Wofratshausen: Diplom Arbeit.