Supplemente für Schwangere: Was bringen Calcium und Folsäure?
Der Körper versucht in jeder Lebenssituation, sich anzupassen, Schaden abzuwenden oder – im Falle einer Krankheit – Heilung herbeizuführen. Dafür regelt er über die Homöostase die Kon- zentrationen wichtiger Substanzen und verändert sie entsprechend den äusseren und inneren Bedingungen. Statt gleich einen Mangel an Calcium oder Folsäure zu verkünden, wäre es sinnvoller, bei nicht normgerechten Blutwerten erst einmal nach dem biologischen Zweck zu fragen.
Ein Artikel von Udo Pollmer & Jutta Muth
In einer Gesellschaft, in der viele Menschen das Gefühl haben, zu kurz zu kommen, fällt eine Philosophie des «subklinischen Mangels» auf fruchtbaren Boden. Nur braucht der Körper niemals von all diesen Substanzen stets Höchstkonzentrationen – schon allein deshalb nicht, weil sich viele Stoffe in ihrer Wirkung gegenseitig aufheben. Dieses biologische Prinzip erlaubt es aber, bei jedermann einen «Mangel» an irgendetwas zu ent- decken, bei jeder Krankheit das Absinken irgendeines Laborwerts zu beklagen. Daraus folgt eine vermeintliche Unterversorgung, dienatürlich durchEinnahme vonNah- rungsergänzungsmitteln behoben werden kann. Belege eines echten Nutzens, z. B. durch Interventionsstudien, fehlen in aller Regel.
Arterien verkalken mit Calcium schneller als ohne
Unter den lebensnotwendigen Stoffen unserer Nahrung steht das Calcium an vorderster Front. Ohne Calcium leidet die Bildung von Knochen und Zähnen. Das verleitet manche Verbraucher zur Vorstellung, man könne davon gar nicht genug haben. Im Knochen steckt schliesslich Calcium, also kann man ihn damit stärken und dem Knochenschwund vorbeugen. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Immenschlichen Gehirnstecken 70 Prozent Wasser. Wenn man also das Denken stärken will, reicht es dann, einen Masskrug leerzutrinken, um sich klug wie Einstein zu dünken? Und zweitens: Woher weiss das Calcium, nachdem es in bester Absicht geschluckt wurde, dass es sich im Knochen häuslich einrichten soll? Es könnte sich doch auch in den Blutgefässen ablagern. Das Ergebnis wäre dann eine Verkalkung.
Die Gesundheitsaufklärer liessen sich von solchen Fragen nicht beirren, sie rieten weiterhin zu Calcium und empfahlen eine calciumbetonte Ernährung mit Mineralwasser, Milch und Mangold. Als 2005 eine erste kleine Studie zeigte, dass die Arterien mit Calcium tatsächlich schneller verkalken als ohne, zeigte sich die Fachwelt unbeeindruckt (Asmus, 2005). Schliesslich galt es, dem Knochenschwund entgegenzuwirken. Aber auch das erwies sich als Irrtum. Selbst nach zwei Jahren hatten die Calciumpillen keinerlei positiven Effekt auf die Knochendichte.
Kombination mit Vitamin D schafft Probleme
Auf dieses alarmierende Resultat folgten grosse Inter- ventionsstudien in aller Welt. Ihr Ergebnis ist eindeutig und übertraf die Befürchtungen: Calcium lässt nicht nur die Gefässe verkalken, sondern es sorgt in der Folge für mehr Herzinfarkte. Teilweise wurde innerhalb von fünf Jahren eine Verdoppelung beobachtet (Bolland, 2008). Ab einer Dosis – egal ob aus Nahrung oder Tabletten – von 900 mg am Tag stieg die Zahl der Todesfälle spürbar an (Wang, 2014). Zur Einordnung: Die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung empfiehlt bis zu 1200 mg.
Viele Experten nahmen die Ergebnisse mit Schweigen zur Kenntnis, um alsbald neue Empfehlungen auszu- sprechen: Sie kombinierten Calcium mit Vitamin D und erhöhten die Preise. Die Bürger nahmen das Angebot wieder dankbar an – die Angst vor Osteoporose steckte vielen noch in den Knochen. Inzwischen ist auch hier klar: Diese Kombination ist genauso wertlos wie Calcium alleine, so der aktuellste «Systematic Review», bei dem alle vorliegenden Studienergebnisse ausgewertet wurden (Reid, 2016). Neben Herzinfarkt und Schlaganfall verursachen oder begünstigen die Supplemente ausser- dem Nierensteine, Harnwegsinfektionen und Magen- Darm-Probleme (Bolland, 2015). Seit Jahren werden die Ärzte in der internationalen Fachpresse gewarnt, ihren Patienten diese ebenso sinnlose wie riskante Prophylaxe angedeihen zu lassen (Seeman, 2010). Um aus einer einschlägigen Übersichtsarbeit zu zitieren: «Weder Calcium noch Vitamin D sollten zur Prävention von Frakturen ver- ordnet werden.» (Bolland, 2015)
Kann man mit Ernährung das Osteoporoserisiko über-
haupt beeinflussen? Ja. Sicher ist: Abnehmdiäten verur- sachen Knochenschwund – unwiderruflich (Søgaard, 2008). Deshalb: Keine Diäten. Und was hilft dagegen? Am zuverlässigsten wirkt Hüftgold. Denn Fettgewebe produziert Östrogen – und das schützt die Knochen nach der Menopause (Greco, 2015).
Mehr Folsäure bringt keinen Nutzen
Bei der Beurteilung der Folsäure ist wesentlich, dass die synthetische Folsäure nicht mit den natürlichen Folaten identisch ist. Es handelt sich vielmehr um Pteroylmonoglutamat (PGA). Im Gegensatz zu den coenzymgebundenen Folaten, die bei ihrer Aufnahme einer Sättigung im Blut einer Obergrenze unterliegen, wird das PGA nahezu unbegrenzt aufgenommen, was einen starken Anstieg der Folsäurespiegel im Blut zur Folge hat (Yeung, 2008). Dadurch wird die körpereigene Regulation unterlaufen. Bisher wird in aller Regel bei der Bestimmung der Folsäure im Blut bewusst nicht zwischen natürlichen Folaten und PGA unterschieden. Dies hilft Nebenwirkungen zu verschleiern.
Schon die ersten Untersuchungen fielen ernüchternd aus: Bei 80 Schwangeren, die ein Kind mit einem Neural- rohrdefekt trugen, zeigten die B-Vitamine im Blut (aber auch Homocystein, Cystein, Methionin und Cholin) keine greifbaren Unterschiede zu Schwangeren mit gesunden Kindern. Damit bestätigen sie eine Analyse aus dem Jahr 2005, bei der 13 Melderegister für Erbdefekte aus ganz Europa und Israel ausgewertet wurden: «Die Empfehlungen, Folsäure zu supplementieren, zeitigten keinen sinkenden Trend für die Inzidenz von Neuralrohrdefekten.» (Busby, 2005)
Die Lösung, Lebensmittel mit Folsäure anzureichern, hielt nicht, was die Experten versprachen: Mosley und ihre Kollegenvon derUniversity ofArkansas konntenkei- nen Nutzen der Folsäureanreicherung dokumentieren:
«Die Einnahme von Supplementen um den Empfängniszeitpunkt herum vermochte das Risiko von Neuralrohr- defekten nicht zu reduzieren. Die mütterliche Aufnahme von Folaten mit der Nahrung war mit Neuralrohrdefekten nicht signifikant assoziiert.» (Mosley, 2009)
Kinder erkrankten häufiger an Asthma
Eine Meta-Analyse bestätigt, dass es wenig ermutigend ist, wenn die Folsäure bereits im ersten Trimester konsumiert wird: Zwar konnte «weder bei Müttern noch Neugeborenen eine signifikante Verminderung klinischer Befunde (niedriges Geburtsgewicht, verzögerte Entwicklung, Frühgeburten, Infektionen, nachgeburtliche Blutungen) beobachtet werden». Dafür, so heisst es, seien «Nebenwirkungen» aufgetreten, über deren Art sich die Publikation ausschweigt.
Das einzige greifbare Resultat der Folsäurehysterie ist, dass die Blutspiegel auf einem Niveau angelangt sind, das zwei bis vier Mal höher liegt als vor der Anreicherung. Mosleys Arbeitsgruppe fand bei denjenigen Frauen nicht mehr Fehlbildungen, die weder Supplemente benutzten noch die empfohlenen Blutspiegel erreichten. Dafür erkranktendie Kindervon Frauen,die währendder gesamten Schwangerschaft Folate eingenommen hat- ten, häufiger an Asthma. Was zunächst wie ein zufälliger Befund wirkte, wird inzwischen von aktuellen Studien bestätigt (Veeranki,2015).
Von Folsäure und B12
Einer der ersten Einwände gegen eine Anreicherung von Lebensmitteln mit Folsäure galt der Gefahr eines maskierten Vitamin-B12-Mangels. Die typische Anämie wird geheilt, während die irreversiblen neurologischen Schäden ungehindert fortschreiten. Offenbar gibt es mehr Wechselwirkungen zwischen den beiden Stoffen: So stellte eine indische Studie fest, dass Folsäuregaben während der Schwangerschaft beim Nachwuchs Insu- linresistenz begünstigt – also das erste Anzeichen von Altersdiabetes. Der Effekt wurde aber nur bei Frauen beobachtet, diewenig B12,aber viel Folsäure im Blut hatten – also Vegetarierinnen, die Supplemente ein- genommen hatten (Yajnik, 2008). Inzwischen wurde dieser Effekt auch bei Neugeborenen beobachtet. Wie auf einem Workshop des Nestle Nutrition Institut zu vernehmen war, wirdder Fötusbei B12-Mangelauf einediabeti- sche Stoffwechsellage programmiert (Deshmukh, 2013). Auchdie Mutterdes Kindesgeht dabei nicht leer aus: Mit der Einnahme der Supplemente steigt das Risiko eines Gestationsdiabetes (Zhu, 2016).
Nachdemsich bei Senioren miterniedrigten Vitamin-B12- Spiegeln gezeigt hatte, dass bei Einnahme von Folsäuresupplementen die geistigen Fähigkeiten litten, hat nun eine Diskussion über neurologische Schäden bei einer täglichen Dosis von 0,5 mg begonnen (Reynolds, 2016). Dies ist vonerheblicher Brisanz,weil immermehr Frauen im gebärfähigen Alter eine vegane Ernährung praktizieren.
Folsäure lässt das Krebsrisiko ansteigen
Obwohl bereits 2005 die sogenannte Norvit-Studie bei erhöhter Folsäurezufuhr einen Trend zu mehr Krebs- erkrankungen festgestellt hatte, beeindruckte das die Vitaminbranche wenig. Als Stolzenberg-Solomon (2006) ebenfalls eine erhöhte Brustkrebsrate bei Folsäureverwenderinnen fand, liefen die Kampagnen zum Krebs- schutz durch Folsäure unbeeindruckt weiter. Die folgende Norvit-Follow-Up-Studie bestätigte das Ergebnis: Die kombinierte Gabe von Folsäure und Vitamin B12 erhöhte das Risiko signifikant, an Krebs zu sterben. Auch die Gesamtsterblichkeit war erhöht. Die Studie umfasste knapp 7000 Patienten, die im Rahmen einer placebokontrollierten, randomisierten Doppelblindstudie sieben Jahre lang täglich 0,8 mg Folsäure plus 0,4 mg B12 erhalten hatten (Ebbing et al, 2009). Inzwischen ist klar: Folsäuresupplemente erhöhen die Krebsrate insgesamt, so das Ergebnis einer Meta-Analyse der University of Alabama (Baggott, 2012).
Diese Ergebnisse sind für den Fachmann alles andere als überraschend. Schliesslich dienen sogenannte Anti- folate, also Medikamente, welche die Folsäurewirkung stoppen, seit langem als Krebstherapeutika. Folate sind biochemisch Methylgruppen-Donatoren und stehen damit zwangsläufig unter Krebsverdacht, da die Methy- lierung der DNA als der entscheidende Schritt der Krebsentstehung angesehen wird. Folaten kommt eine Schlüsselrolle bei der Synthese von Nukleotiden zu, die Krebszellen für ihr Überleben benötigen. Viele Krebs- gewebe entwickeln deshalb vermehrt Folatrezeptoren. Weiterhin kann Folsäure in nicht metabolisierter Form die Killerzellen des Immunsystems schwächen, deren Aufgabe es ist, entartete Zellen zu beseitigen.
Die Antifolate sind eine wunderbare Eselsbrücke für den Laien, um die Folgen einer unbedachten Folsäuregabe zu erfassen: Sie werden nicht nur zur Chemotherapie von Krebs eingesetzt, sondern auch zur Behandlung von Infektionen, weil dieses Vitamin für mikrobielle Krankheitserreger und Parasiten wie Plasmodien (Toxo- plasma, Malaria) lebenswichtig ist. Antifolate wirken wie Antibiotika. Daneben werden sie zur Behandlung von Morbus Crohn, rheumatoider Arthritis und Schuppenflechte verordnet.
Welches sind Ursachen von Spina bifida?
Sicher ist, dass Neuralrohrdefekte von Medikamenten (Valproinsäure) sowie Schimmelpilzgiften (Fumonisine) ausgelöst werden. Im Falle der Fumonisine wird ver- mutet, dass sich die Defekte durch Folsäure vermeiden liessen (Marasas, 2004). Fumonisine werden von Fusarien erzeugt, die bei feuchter Witterung vor allem Mais, aber auch alle anderen Getreidearten befallen. In der Tierernährung ist es eine Binsenwahrheit, dass die Fu- monisine des Maises bei Nutztieren Neuralrohrdefekte verursachen; selbstverständlich wird dort Wert auf rückstandsarmes Futter gelegt. Daneben werden die Bemühungen intensiviert, fusarienresistenten Futtermais zu züchten. Eine Gabe von Folsäure ist nicht angezeigt, seit beim Menschenerste Ergebnissezeigen, dassdie Supplemente beim Neugeborenen offenbar Missbildungen von Nieren und Harnwegen begünstigen (Groen In ’t Woud, 2016).
Die gleichen Folgen wie Fumonisine haben Valproate (Antiepileptika), die während der Schwangerschaft eingenommen das Risiko für schwere Missbildungen verdreifachen. An erster Stelle steht dabei die Spina bifida (Ornoy, 2009). Für die Gesundheitsbranche stellt sich damit die Frage, ob sich die sicher gut gemeinte Prävention in Hinblick auf mögliche Schadenersatz- und Regressforderungen noch lohnt. Wäre es nicht sinnvoller, Schwangere vor Produkten, die Mais enthalten,auch und gerade Biomais, und vor Medikamenten mit Valproinsäure zuwarnen?
Dieser Artikel ist ein gekürzter und aktualisierter Auszug aus «Calcium ist eine Gefahr für Herz und Nieren», Radiokolumne vom 8. April 2016 von Udo Pollmer, Deutschlandradio Kultur; und «Folsäure Update» von Jutta Muth, EU.L.E.nspiegel, Wissenschaftlicher Informationsdienst des Europä- ischen Institutes für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften
e.V., 2009; Heft 3–4: S. 26–31.
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